5.1 Aufbau einer Sprechhemmung bei den Eltern
Ratsuchende Eltern haben, wenn sie in Beratung kommen, in der Regel versucht, mit Max zu reden, daß er die Suchtpräsenz aufgeben möge. Sie haben auf die unterschiedlichsten Weisen geredet – wochenlang, monatelang, manchmal jahrelang. Sie haben nicht nur über die Suchtpräsenz geredet, sondern auch über viele andere Lebensbereiche von Max: Ordnung, Sauberkeit, Schule, Ausbildung, Freunde, Zeiten der Ab- und Anwesenheit etc. zu denen die Eltern andere Vorstellungen als Max haben.
Obwohl Max den Eltern schon mehrfach gesagt hat, sie würden mit ihrem Reden nerven, haben es die Eltern fortgeführt, weil sie keine Alternative wußten. Eltern denken, sie müßten auch noch in der Pubertät aktiv ihren Max beeinflussen und vor möglichen Gefahren warnen. Bitte mach dieses, bitte laß jenes. Wir nennen dieses Elternverhalten Curling oder Helikopter-Eltern. Wie in der Eissportart mit dem Besen der Stein in seiner Geschwindigkeit und Richtung beeinflußt werden soll, versuchen Eltern auch Max zu beeinflussen. Eltern übersehen dabei oder wollen es nicht wahr haben, daß sie Max nicht mehr hindern können, das zu tun was er will. Eltern versuchen es immer wieder, je besorgter desto intensiver und länger.
Eltern haben die unterschiedlichsten Motivationen, mit denen wir uns im Elterncoaching jedoch nicht beschäftigen. Zum einen würde es wertvolle Zeit dauern, uns mit den Motiven, Einfluß auf Max nehmen zu wollen, zu beschäftigen und dann wäre auch noch offen, ob das Erforschen und Bearbeiten der Motive zur gewünschten Verhaltensänderung bei den Eltern führen würde.
Vielmehr ermuntern wir die Eltern mit viel Zuversicht zu einem Experiment, das nur 14 Tage dauert und mit dem wir sehr viel in Erfahrung bringen können. Dieses Experiment nennen wir die „Sendepause“:
Zu einem Zeitfenster, in dem es „normalen“ Familienalltag gibt (nicht bei Feier- und Geburtstagen, anstehenden Prüfungen, Urlauben etc.), werden die Eltern das Reden einstellen. Kein Wort mehr. 100 % Schweigen. Eltern fragen dann immer wieder: „Auch kein guten Morgen oder Guten Tag?“ Nein, 100 % Schweigen.
Wie das angekündigt wird, beschreibe ich im nächsten Beitrag.
Max kennt seine Eltern 15, 20 oder 25 Jahre lang. Er weiß genau, wie seine Eltern „ticken“, was sie für gut und richtig halten und was nicht.
Es ist alles gesagt und getan bis zum Beginn der Pubertät was Max zur Alltagsbewältigung benötigt!
Die Eltern stellen also jegliches Sprechen für 14 Tage ein. Die nonverbale Kommunikation, also die Körpersprache, wird reduziert:
Mimik: zu nichts, aber auch gar nichts, was mit Max zu tun hat, wird eine Miene verzogen. Max soll auch an der Mimik der Eltern nicht erkennen können, wie sie auf ihn reagieren.
Gestik: Das gleiche gilt für die übrige Körpersprache. Kein Schulterzucken, kein Kopfschütteln – nichts!
Eine Ausnahme gibt es: Wenn Max trotz Ankündigung auf die Eltern zukommt und etwas besprechen möchte, geben die Eltern ein Stop-Zeichen mit einer Hand und sagen nur das Wort „Sendepause“. Aber mehr dazu später im Beitrag zur Durchführung der Sendepause.
In Bezug auf die Eltern hat diese Sendepause das Ziel, eine Sprechhemmung aufzubauen. Die Erfahrung zeigt, daß nahezu alle Eltern, die 14 Tage durchgehend diese Sendepause durchführen, eine recht zuverlässige Hemmung vor impulsivem Sprechen entwickelt haben. Wieso das so funktioniert und was dabei im Gehirn passiert wird später im Kapitel Hirnforschung erklärt.
Wie in Kapitel 1.3 und 2. erläutert, können die Eltern nicht Max ändern, aber sie können die Beziehung zu Max ändern und damit muß auch Max in der Rückkopplung sein Verhalten, seine Beziehung zu den Eltern ändern. Diese Beziehungsänderung setzt aber voraus, daß die Gestaltung der Kommunikation verändert werden muß, was bedeutet, die Eltern können nicht bei ihren alten Kommunikations- (Sprech-) -mustern bleiben, sondern müssen diese komplett ändern. Allerdings ist zu beachten, daß offenbar eine Mischung aus den alten und dem neuen Muster nicht funktioniert, sondern den gleichen Effekt hat, als hätte man das neue dem alten nicht hinzugefügt oder mit ihm vermengt. Max wird nur ein komplett neues Muster erkennen und er wird darauf anders als gewohnt reagieren, wenn dieses mindestens 3 Monate (Erfahrungswert) von den Eltern praktiziert wird.
Um nach den 14 Tagen Sendepause für mind. 3 Monate ein neues Kommunikationsmuster zu praktizieren, bedarf es dieses Aufbaus einer Sprechhemmung, eines absolut disziplinierten Sprechens und Reagierens auf Max. Aus welchen einzelenen Elementen das neue Muster besteht wird auch später noch beschrieben.
Die Hemmung vor spontanem, impulsivem, zu schnellem, unüberlegtem Sprechen und Reagieren ist die Grundlage für alle weiteren Interventionen. Nur mit Hilfe dieser Sprechhemmung können wir mit den Eltern weitere wirkungsvolle Schritte unternehmen.
Die Eltern sind verständlicherweise zunächst skeptisch, was in diesen 14 Tagen zu Hause passieren wird. Wie wird Max reagieren? Wie wird es mir als Vater und Mutter gehen? Werde ich das schaffen?
Um es vorwegzunehmen: die Mehrzahl der Eltern stellt schon nach wenigen Tagen eine große Erleichterung fest. Zum einen fällt ihnen das Schweigen leichter, als auf Max mit Reden einzuwirken. Zum zweiten passiert nichts von dem, was befürchtet wurde.
Es gibt nun eine Woche Osterpause und am 29. März geht es weiter. Frohe Ostern Ihnen und Euch allen!