Jeder von uns wurde im Zuge der eigenen Geburt „abgenabelt“. Ab diesem Geburtstag beginnt die sprichwörtliche Abnabelung von den Eltern und vom Elternhaus. Mit jedem weiteren Tag, mit jeder Woche, jedem Monat, jedem Jahr werden, wurden wir immer eigenständiger und selbständiger und entwickelten uns zu einem ganz eigenständigen Individuum. Wir durchlaufen den Prozeß der „Individuation“.
Gäbe es aber nur diesen Aspekt, würden wir darauf zusteuern, vor lauter Individuation den Kontakt zu unserer Herkunftsfamilie aus den Augen zu verlieren. Geschieht das, wäre das ein Aspekt, den wir mit Über-Individuation bezeichnen. Damit dieses aber nicht passiert, bedarf es des gegenläufigen Aspektes der Bezogenheit.
Entsprechend hat man diesem Gesamtpaket den Begriff der „bezogenen Individuation“ gegeben.
Es kann aber auch nicht nur ein Zuviel an Individuation geben, auch die gegenteilige Übertreibung ist denkbar – die Übertreibung der Bezogenheit. Das wären z. B. Töchter oder Söhne, die man als 16jährige immer noch wie 10jährige behandelt, indem man sie morgens weckt, deren Zimmer aufräumt, das morgendliche Butterbrot schmiert, jeden Tag nach den Hausaufgaben fragt, jede Minute wissen will, was sie tun und wo sie sich befinden.
Regel 1Jeder Lebensmonat eines Sohnes und einer Tochter ist geprägt von einem nächsten Schritt der Individuation des Kindes und bedarf der Entwicklung eines neuen Schrittes der Bezogenheit. |
Regel 2Jeder Lebensmonat der Eltern eines Sohnes und einer Tochter ist geprägt von einem nächsten Schritt der Individuation der Eltern und bedarf der Entwicklung eines neuen Schrittes der Bezogenheit der Eltern. |
Nicht nur die Kinder nabeln sich mit zunehmendem Alter ab. Auch die Eltern erhalten weitere Freiräume für das eigene Leben und für ihre Paarbeziehung und sollten sich um Gestaltungsmöglichkeiten kümmern, in denen die Kinder nicht mehr und anders vorkommen.
Ein Beispiel: Der 15jährige Max wird von seinem Schulfreund Denis zum Geburtstag eingeladen. Max Eltern bitten ihn, um 22 Uhr wieder zu Hause zu sein. Vor lauter Feiern hat Max die Zeit nicht wirklich im Blick. Plötzlich stellt er fest, es ist 10 nach 10 und der Bus ist weg.
Eine angemessene Reaktion der bezogenenen Individuation von Max wäre es, die Eltern anzurufen, zu sagen, es täte ihm leid, die Zeit aus den Augen verloren zu haben und sein Freund Denis habe angeboten, bei ihm übernachten zu können.
Eine angemessene Reaktion der bezogenenen Individuation der Eltern wäre es, Max zu sagen, daß sie sich freuen, daß er Spaß hatte und ihn zu bitten, kurz mit Denis Eltern telefonieren und das Weitere absprechen zu können.
Sie unterstellen Max keine Nachlässigkeit oder gar geplanten Eigennutz, sondern signalisieren: Du kommst jetzt in ein Alter, in dem man sich auch mal erlauben kann, einfach nur Spaß zu haben, ohne auf die Uhrzeit achten zu müssen. Genieße das. Und: schön, daß Du dann aber auch eine angemessene Verantwortung zeigst, indem Du anrufst, Dich entschuldigst und einen Lösungsvorschlag machst.
Würden die Eltern mit dieser Entspannheit und Gelassenheit reagieren, wären Sie ein gutes Vorbild für einen neuen bezogenen Individuationsschritt.
Die eigene Geschichte der Eltern
Eltern sind keine geschichtslosen Wesen. Sie bringen sowohl leidvolle wie wertvolle Lebenserfahrungen in ihre derzeitige Familiensituation mit ein.
Warum die eigenen leidvollen Lebenserfahrungen manchmal in Befürchtungen über das Wohl ihrer Kinder Überhand gewinnen, lesen Sie bitte einige Kapitel weiter bei „Amygdala und Co“.
Hier nur so viel: die eigenen Kinder können nichts dafür, wenn Eltern ängstlich und mißtrauisch sind. Eltern dürfen diese Erfahrungen aber nicht auf ihre Kinder übertragen (1) Das ist ihr eigenes Problem. Damit dürfen sie nicht ihre Kinder behelligen. Wenn Eltern ihren Kindern zeigen, wieviel Angst sie um sie haben, kann das folgenschwere Auswirkungen auf die Kinder haben. Denn mit Ängstlichkeit signalisieren Eltern ihren Kindern, es gäbe Gründe, daß ihnen Schlimmes passieren könne und vor allem seien sie selbst, die Kinder, der Grund dafür. Das entmutigt und demotiviert Kinder: sie trauen sich nichts zu, sie fühlen sich unsicher und schwach.
Das Gegenteil ist geboten:
Wenn Eltern Ängste und Mißtrauen haben, die in ihnen selbst begründet und gewachsen sind, dann sollten sie in eine Beratungsstelle oder zu einem Therapeuten gehen und das dort lassen und bearbeiten, damit sie selbst und die Beziehung zu ihren Kindern davon befreit ist.
Regel„Elterliches Zutrauen in das Kind reflektiert offenbar die wichtigste Dimension und Bedingung für eine gute Ausrüstung und Motivation, das Leben in die Hand zu nehmen und sich zuzutrauen, die Schwierigkeiten zu meistern … Elterliches Zutrauen begünstigt jene Persönlichkeitsressourcen, die gute Voraussertungen für eine gelingende Lebensbewältigung bieten.“ Deutsche Shell Jugendstudie 2000, S. 14 |
Eltern sollten ihren Kindern ein altersangemessenes Zutrauen entgegenbringen, das ihnen Mut macht, das ihnen signalisiert, daß man an sie und ihre Fähigkeiten und Stärken glaubt, daß man ihnen zutraut, daß sie Erfahrungen machen können, um aus ihnen zu lernen.
Sollten die eigenen Ängste der Eltern so schnell nicht zu bearbeiten sein, dann empfehle ich Eltern: Lassen Sie sich nicht anmerken und verbergen Sie Ihre Ängstlichkeit. „Tun Sie zumindest so, als wären Sie zuversichtlich und als hätten Sie ein Kind, das mutig ist, aus Erfahrungen selbst zu lernen und das Frust, Enttäuschung und Rückschläge verkraftet und aushält. Das macht Ihr Kind stark.“
Muten Eltern ihren Kindern auch Erfahrungen zu, die mißlingen können oder die ihnen sogar Leid, Frust, Enttäuschung zufügen und Eltern trauen ihnen zu, daß sie diese Erfahrungen verarbeiten, überwinden und selbst daraus lernen, dann entwickeln solche Kinder aus diesen selbst überstandenen Lebenserfahrungen einen unglaublichen Selbstwert, Lebensmut und werden stolz sein können, auf das was sie selbst erreicht haben, denn es waren nicht die Eltern mit ihren Ratschlägen oder Warnungen, sondern sie selbst haben allein etwas bewältigt und erreicht.
Zurück zum Bild der bezogenen Individuation: tagtäglich, wöchentlich, monatlich entwickeln die Kinder und Jugendlichen immer neue Schritte und Fähigkeiten der Selbständigkeit. Und Eltern müssen das auch entwickeln und lernen, wie sie mit der Verselbständigung = Individuation ihrer Kinder zurecht kommen. Beide Seiten, Kinder wie Eltern, sollten solche Schritte der Eigenständigkeit = Individuation und die dazu passenden neuen Schritte der Bezogenheit zueinander entwickeln.
Sendepause und bezogene Individuation
Mit der 14tägigen Sendepause ziehen sich die Eltern aus der Kommunikation mit Max und damit aus der Beziehung zu ihm weitgehend heraus. Sie setzen eine künstlich gestaltete Individuation in Szene.
Damit entsteht kybernetisch ein Beziehungsvakuum, das nach Geschlossenheit drängt und Anziehungskraft frei setzt. Die familiäre Homöostase gerät aus dem Gleichtgewicht. Jetzt wird es spannend, weil Max diese Anziehungskräfte zu spüren bekommt. Mit welcher Bezogenheit wird Max reagieren? Das ist die 2. große diagnostische Frage in diesem Setting:
Wir wollen im Coaching mit der Inszenierung der Sendepause wissen, wie Max auf den kommunikativen Rückzug (individuation) der Eltern reagiert.
Drei Möglichkeiten wird es geben:
1. Max macht weiter wie bisher und tut so, als habe es die Ankündigung der Sendepause und das veränderte Elternverhalten nicht gegeben.2. Max macht mehr desselben als bisher, d. h. er übertreibt seine bereits überwertige Indivuation und steigert sie noch.
3. Max füllt das entstandene Beziehungsvakuum, indem er vermehrt auf die Eltern zukommt. Max reagiert mit Bezogenheit.
Dazu mehr im nächsten Beitrag.
(1) mehr dazu in Helm Stierlin, Delegation und Familie, Frankfurt 1982, S. 60 ff: Familientherapeutische Aspekte der Übertragung und Gegenübertragung und derselbe in Das erste Familiengespräch, Stuttgart 2001, S. 23 ff: Bezogene Individuation