Im Rahmen meiner Ausbildung in klinischer Hypnose und Hypnotherapie bei der MEG (1) begann ich, mich mit Erkenntnissen der Hirnforschung in Bezug auf psychisches Geschehen zu interessieren. Mittels der erwähnten Reduzierung von Komplexität erwähne ich hier vorerst nur jene Aspekte, die uns etwas verständlicher machen können, was Tims Mutter und ich gemeinsam entdeckt hatten.
Eine Beispielsituation, die Sie kennen dürften: Sie haben vermutlich einmal den Autoführerschein gemacht und wenn nicht, so dürften Sie sich doch vorstellen können, man das erste Mal im Auto nicht als Beifahrer, sondern hinter dem Lenkrad saß. Tausend Dinge und Eindrücke „stömten“ auf einen ein – die Erklärungen des Fahrlehrers, die Dinge im Auto, die Welt außerhalb des Autos und und und. Man fühlte sich reichlich überfordert und als man das erste Mal dann ein wenig Gas geben sollte ging es vermutlich ruckelig und zunächst im Schneckentempo voran. Worauf will ich hinaus? Bereits in der zweiten Fahrstunde war man in der Lage schon eine ganze Reihe an Wahrnehmungen ausblenden und sich auf die wenigen Aspekte zu konzentrieren, die notwenig waren, um gut und sicher durch den Straßenverkehr zu kommen. Und wieviele Fahrstunden haben Sie gebraucht, unnütze Wahrnehmung ausblenden, also zu hemmen und sich ausschließlich auf das Autofahren zu konzentrieren? Ich schätze im Schnitt werden es 5-8 mal eine ¾ Stunde gewesen sein. Mehr Zeit war für das Lernen, das Erwerben solch einer stabilen Hemmung nicht notwendig!
Hilfreich dabei war allerdings auch der Rahmen des Straßenverkehrs, denn ein „Ausrutscher“ konnte hier üble Folgen nach sich ziehen, also besser ganz klar konzentrieren.
Übertragen wir das jetzt einmal auf Tims Mutter und unser Experiment. Es fehlte der Mutter in ihrem Elternverhalten gegenüber ihrem Sohn der eben erwähnte Rahmen, in dem ein „Ausrutscher“, also das Verlassen einer Regel, sofort und unmittelbar eine „üble“ Folge haben konnte. Das scheint mir der entscheidende Unterschied zur Fahrstundensituation zu sein, ganz bestimmte Wahrnehmungen zu hemmen und auszublenden und vorschriftsmäßig nur ganz bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen zu tun und sich ausnahmslos an betimmte Regeln zu halten.
Schauen wir uns also an, was zu diesem Aspekt im Gehirn geschieht. Den Begriff der „Hemmung“ benutzten wir bisher wohl eher negativ gemeint: ich fühle mich gehemmt, jemand anzusprechen; ich habe Hemmungen, vor vielen Menschen eine Rede zu halten etc.
Dabei hat der Aspekt der „Hemmung“ durchaus auch konstruktive Seiten. Als Kinder lernen wir schon, unsere Wahrnehmung zu hemmen, um uns auch mal auf ein Ding konzentrieren zu können. Gehen Sie in Gedanken doch einmal Ihr Wohnzimmer durch. Vermutlich gibt es dort ziemlich viel zu sehen und doch nehmen Sie dort normalerweise das alles nicht bewußt war, jedenfalls solange sich alles an seinem gewohnten Platz befindet. Üblicherweise würden Ihnen nur die Ausnahmen von der Regel bewußt auffallen: jemand hat mit der Tagezeitunf den Fernseher abgedeckt – was soll das denn? Ein Strumpf liegt auf dem Boden?! Ein Glas ist umgefallen. Die Blumen lassen die Köpfe hängen. Alles andere, normale, blendet unsere Wahrnehmung aus. 2 Quelle: Hüther, Neues vom Zappelphillip ???
Wir haben es nun im Aspekt der Hemmung also mit zwei Teilaspekten zu tun: es geht um die Hemmung bestimmter Wahrnehmung und es geht darum bestimmte Verhaltensweisen und Handlungen zu hemmen. Hemmung ist hier also der hilfreiche Gegenspieler zum Aspekt des Impulshaften, des Spontanen.
Zeige ich im Straßenverkehr spontanes Verhalten, das von den Regeln abweicht, kann das zufälligerweise gut gehen. Das Risiko einen Unfall zu produzieren ist aber immanent.
Als Eltern sollte ich mich in Bezug auf mein Verhalten ebenso an bestimmte Regeln halten. Weiche ich schon mal spontan davon ab, wird das zumeist und normalerweise keine großen Folgen nach sich ziehen.
Will ich aber bei meinem Kind bzw. meinem Jugendlichen etwas ganz Bestimmtes erreichen, werde ich die Wahrscheinlichkeit nur dann erhöhen, wenn ich mich wie im Straßenvekehr ausnahmslos an festgelegte Regeln halte. Eltern wie Tims Mutter fühlen sich in einer existentiellen Notsituation, weil sie befürchten müssen, daß ihr Jugendlicher auf einen gesundheitsgefährdenden Zustand zusteuert und es nicht viel Zeit gibt, um möglichst rasch und wirksam interventieren zu können. (siehe auch Der Mensch als operational geschlossene Einheit und Bis zur Pubertät ist alles getan)
Ich schlug weiteren Eltern das gleiche Experiment mit derselben Vorgehensweise vor, die ich dann schließlich „Die Sendepause“ nannte: 14 Tage ausnahmsloses sprachliches Schweigen. Über das Ankündigen der Sendepause, ihren Rahmenbedingungen, Ausnahmen etc. mehr im Kaptiel „Sendepause“.
Die Ergebnisse waren eindrucksvoll: Bis auf ganz wenige Ausnahmen konnten alle Eltern nach dieser Sendepause absolut diszipliniert mit ihren Jugendlichen kommunizieren, mochten sich diese auch noch zu provokant verhalten. Diese Eltern konnten emotional cool bleiben und wohl überlegt nur das Nötigste sagen. Sie fielen niemals mehr aus der Rolle, d. h. sie bewegten sich selbst gegenüber und dem Jugendlichen gegenüber immer in dem von uns in der Beratung erarbeiteten zielorientierten Rollen- und Verhaltensschema. (Dazu später sehr viel mehr.)
Offenbar hatte das elterliche Gehirn in diesen 14 Tagen eine stabile Sprechhemmung aufgebaut. Immer trat eine Hemmung ein, bevor gegenüber dem Jugendlichen in einer Situation das erste Wort aus dem Mund kam. (siehe dazu eine ähnliche Erfahrung im Kapitel „Zielorientiert kommunizieren“)
Dazu kurz eine zugegebener Maßen etwas sehr vereinfachte Information über das Gehirn mit deren Hilfe wir uns aber immer wieder gut erklären können, wie das in unserem Kopf, im Gehirn funktioniert:
Vorne hinter der Stirn haben wir den präfrontalen Cortex. In ihm sind alle unseren sozial gelernten Erfahrungen abgespeichert. Da wir zwei Hirnhälften haben, links und rechts, gibt es Unterschiede in den Funktionen und Arbeitsweisen:
Links findet überwiegend das rationale Denken statt mit seinen sogenannten Exekutivfunktionen, also wenn es um durchdenken, planen, überlegen usw. geht.
Rechts dagegen sind die Aktivitäten mehr emotional. Wenn es um spontane Handlungen geht, um impulsives Verhalten, dann ist dies in dieser rechten Hirnregion entstanden.
Zum besseren Verstehen müssen wir aber noch eine weitere Hirnregion hinzuziehen, die wir übrigens zweifach haben, die Amygdala oder auch der Mandelkern. Sie sitzt in der tieferen Schicht des Gehirns, hat zwar soziale Erfahrungen in unserem Leben gemacht und abgespeichert, aber in ihr wohnen offenbar auch alle Erfahrungen aus unserer gesamten Evolutionsgeschichte. Dazu müssen wir vor Augen halten, daß jeder von uns Vorfahren hat, wir wissen nicht wieviele das sein mögen, die überlebt und sich fortgepflanzt haben. Sie haben in einer gefährlichen Welt überlebt und die Fähigkeiten und Ressourcen, überleben zu können, abgespeichert und in der Evolutionsgeschichte an die Nachkommen weitergegeben.
Und genau dieses „Wissen“ mit seiner Geschichte, die so weit zurück reicht, wie es Leben auf dieser Erde gibt, dieses Wissen ist wohl in der Amygdala abgespeichert. Sie weiß, wie zu reagieren ist, wenn Gefahren drohen. Dabei sind neuronalen Reaktionsmöglichkeiten um ein Vielfaches schneller als die anderen neuronalen Netze in unserem Gehirn und damit auch schneller als unser Denken in der Großhirnrinde (Cortex, Präfrontaler Cortex).
Kommt eine kleine Fliege auf Ihr Gesicht zugeflogen, schließen Sie blitzartig das Auge, ohne Nachzudenken: Oh, da kommt jetzt eine Fliege. Die könnte in meinem Auge landen. Dann sollte ich das Auge mal besser zu machen. Viel zu langsam. Die Amygdala ist in dieser „Gefahrensituation“ sehr viel schneller und effizienter. Die Amygdala ist schließlich in der Evolutionsgeschichte auch sehr viel früher entstanden als die noch relativ junge Hirnschicht mit der wir Menschen denken können.
Und die neutonale Arbeitsgeschwindigkeit der Amygdala ist nicht nur schneller als die des Cortex, sie ist auch zahlreicher neuronal vernetzt in ihren Sendefunktionen, während jene neuronalen Bahnen, die z. B. vom Cortex zur Amygdala führen, viel weniger zahlreich sind.
Wir haben es also mit einem scheinbar doppelten Handicap zu tun: Amygdala sehr schnell und sehr zahlreich neuronal im Output gebahnt – Cortex mit langsamer Arbeitsgeschwindigkeit und wenig neuronalen Bahnen in Richtung Amygdala.
Als man in der Hirnforschung realisierte, daß die Amygdala, vereinfacht gesagt, schneller ist als unser Denken, stand plötzlich die Frage im Raum, sind wir Menschen eigentlich wirklich vernunftbegabte und vernunftgesteuerte Wesen oder sind wir letztlich nicht den viel schnelleren Entscheidungen der Amygdala unterworfen. (Quelle: Die ZEIT ….) Ein Kollege nannte dies mal: „Leben wir limbisch.“ (Quelle: Gunther Schmidt???)
Wenn es ums Überleben und die Vermeidung von Gefahrensituationen geht, ist das sehr hilfreich, ob wir auf dem Land leben oder in der Großstadt. Aber in vielen Situationen kann diese starke Schutzfunktion der Amygdala auch zu „Fehlfunktionen“ führen. Jeder der z. B. unter Flugangst leidet, gehört dazu. Vermutlich befindet sich die Amygdala eines jeden Fluggastes in einer gewissen Alarmstimmung. Der Mensch ist nun mal nicht zum Fliegen gemacht. Aber die meisten Fluggäste merken nichts von ihrer aktiven neuronal feuernden Amygdala, weil ihre Signale bei jenen sozusagen in präfrontale Watte gepackt ist. Die meisten Flugteilnehmer, erst recht das Flugpersonal, haben sozial gelernt und im PFC breit und gut vernetzt neuronal gespeichert, daß Fliegen ungefährlich sei. Die Amygdala dringt mit ihren Gefahrensignalen bei diesen Menschen einfach nicht durch. Sie merken bewußt spürbar nichts von ihrer feuernden Amygdala.
Ein anderes Beispiel (siehe Artikel im Tageblatt) allein jetzt zu hören oder hier zu lesen das Wort „Schmerz“ führt zu einer Aktivität der Amygdala und aktiviert das Schmerzzentrum im Gehirn. Allerdings merken wir wieder bewußt davon nichts.
Das macht offenbar den Unterschied zwischen mehr ängstlichen und weniger ängstlichen Menschen aus. Die einen sind cortikal zu wenig gut neuronal vernetzt und die Signale der Amygdala dringen zum Bewußtsein durch. Die weniger ängstlichen sind cortikal so sehr gut neuronal vernetzt, daß die Amygdlasignale ausgebremst und damit nicht spürbar werden.
Nach diesem Modell, Abb. 1, haben wir es mit einem 3:1 Verhältnis zu tun. 3 Hirnfunktionen, die impulsiv neuronal feuern und eine Hirnregion, linker PFC, die mit Exekutivfunktionen bemüht ist, rational einzuordnen, zu beurteilen, zu planen und zu entscheiden. Kein leichter Job für den linken PFC, sich zu behaupten.
Wohlgemerkt ist das hier eine sehr vereinfachte Erklärung und Darstellung. Aber wir können uns jetzt zumindest eine ungefähre Vorstellung davon machen, worauf es ankommt.
Also zurück zum Elternverhalten und warum es nicht so einfach ist, einerseits zu wissen, worauf es im Elternverhalten ankommt, dann aber in den entsprechenden Alltagssituationen in Konfrontation mit dem Jugendlichen sich zwar oft nach den erabeiteten Regeln verhalten zu können (der linke PFC ist bestimmend aktiv), dann aber wieder doch sich zwischendurch in früheres, altes Elternverhalten hineinziehen zu lassen (Amygdala und rechter PFC entscheiden über das Verhalten).
Dazu berichten viele Eltern das Phänomen, während sie noch stark emotionsalisiert mit altem Elternverhalten dem Jugendlichen gegenüber aus der neuen Rolle fallen, sagt ihnen schon während des ersten Satzes der linke PFC: „Du solltest jetzt besser die Klappe halten und nicht weiterreden!“ Aber dann sind Amygdala und rechter PFC bereits so angetriggert und hochgepuscht, daß neuronal die Post abgeht und der linke PFC kalt gestellt ist und nichts mehr zu melden hat. Links Standby Modus bis hin zum Stromausfall – rechts Hochspannung.
Pikanterweise gibt es hier eine Parallele zum pubertierenden Gehirn: Kennen Sie auch Jugendliche mit ihren wechselvollen Gemütszuständen und Stimmungsschwankungen? Gerade noch wollte Tim etwas von seiner Mutter entschieden haben, sie sagt aber: „Tut mir leid, geht aber nicht.“ Tims Amygdala empfindet dies als Angriff, im weitesten Sinn als Gefahr und manchmal oder oft gibt es im pubertierenden Gehirn links den Stromausfall und die Amygdala puscht den rechten PFC so richtig hoch. Also regt sich Tim ordentlich auf, wird, weil Mutter ganz cool beim Nein bleibt und zeigt sich ziemlich respektlos, schmeißt Türen und so fort. Nach einer Stunde wird plötzlich im linken PFC wieder der Strom hochgefahren und die Exekutivfunktionen können wieder ihren Job machen: die Situation von vorhin überdenken, einschätzen, beurteilen, entscheiden, daß das wohl kein besonders angemessenes Verhalten war. Also kommt Tim an und sagt: „Tut mir leid, daß ich Dich vorhin so beschimpft habe.“ Meist sind Eltern in solchen Situationen verblüfft oder verwirrt oder glauben ihrem Tim kein Wort.
Aber Halt: jetzt wissen wir, je emotionaler oder auch respektloser sich Tim zeigt, desto aktiver sind gerade Amygdala und rechter PFC bei gleichzeitigem Standby Modus im linken PFC. Also ist das gar nicht Tim, das ist nur seine Amygdala. Warten wir doch einfach ab, bis links der Stromausfall behoben ist und dann können wir wieder kommunizieren, zumindest solange bis zum nächsten Stromausfall.
RegelBefindet sich der linke PFC wegen Stromausfall im Standby Modus, |
Es hat wirklich keinen Zweck. Sie dringen in solch einem Zustand nicht bis zum linken PFC durch. Im Gegenteil besteht ein erhebliches Risiko, daß Sie sich emotional anstecken lassen und sich ebenfalls hinreißen lassen (dann arbeitet Ihr Gehirn im linken PFC ebenfalls im Standby Modus), respektlos zu werden und damit die Amygdala des Jugendlichen noch mehr anzutriggern und anzufeuern. Dann führt diese Dynamik ziemlich schnell und wahrscheinlich in leidvolle beiderseitige agressiv getönte Eskalationen. Ich gehe davon aus, Sie lesen weiter, wenn Sie lernen wollen, genau dies nicht mehr machen zu wollen.
Also zurück zur Sendepause: Wenn Eltern mit einem sehr emotionalen, aggressiven oder respektlosen Jugendlichen konfrontiert sind, scheinen manchmal die gut vorbereiteten und gut entwickelten Exekutivfunktionen des linken PFC nicht auszureichen, weil sich in dieser 3:1 Situation der rechte PFC angefeuert durch die 2fache Amygdala Bahn bricht und die Oberhand gewinnt.
Was Tims Mutter und ich in dem damaligen Experiment entdeckten, ist, daß es offenbar mit einer neuronal gut entwickelten Impulshemmung (Hemmung des rechten PFC) und einer gut in Watte gepackten Amygdala sehr viel sicherer und einfacher für den linken PFC ist, durchgängig seine Funktionen aufrecht zu erhalten.
RegelSo wie 5 mal eine ¾ Zeitstunde Fahrschule ausreichen, um im Gehirn eine stabile Wahrnehmungshemmung in Bezug auf nicht benötigte Informationen im Straßenverkehr aufzubauen (Man bedenke, so schnell lernt das Gehirn!) braucht es durchschnittlich 14 Tage elterliches verbales „Nicht-kommunizieren“ halten (Sendepause), um eine Hemmung vor impulsiven inneren emotionalen Reaktionen (Ärger, Wut, Enttäuschung, Aggression) und der Folge von spontanem Reagieren (nonverbales Pokerface und keine verbale Äußerung) aufzubauen. |
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