Nach einem mehrjährigen Ausflug in die Suchtvorbeugung und Gesundheitsförderung bekam ich 2002 das Angebot, eine Suchthilfeeinrichtung neu aufzubauen. Zurück in der Beratung war ich plötzlich mit einer anderen Klientel konfrontiert als ich dies Jahre zuvor in einer anderen Suchtberatungsstelle gekannt hatte: Es meldeten sich in der neuen Einrichtung erstaunlich viele Eltern wegen ihrer konsumierenden Jugendlichen.
Als Suchttherapeut1 und Familientherapeut2 war es mein Anspruch, in jedem Fall möglichst alle Familienmitglieder am Beratungsprozeß zu beteiligen. Ich lud also nach dem Erstgespräch in den Sprechstunden auch die übrigen Familienmitglieder zum nächsten Gespräch mit ein.
Gelegentlich führten die Ratsuchenden im Erstgespräch Gründe an, warum der eine oder andere Familienteil nicht mitkommen könne oder solle. Ich würdigte einerseits die Gründe, die genannt wurden, hielt aber andererseits dagegen, daß wir angesichts der benannten schwerwiegenden Problematik weshalb man sich um Beratung an uns gewendet hatte, jeden aus der Familie zur weiteren Unterstützung brauchten.
Meist wurden dann die zu Hause gebliebenen, dann doch gebeten, zum nächsten Gespräch mitzukommen. Bei denjenigen, die sich dazu noch nicht entschließen konnten, insistierte ich nicht weiter, sondern vertagte meine nachhaltige Bitte, alle zu beteiligen, auf einen späteren Zeitpunkt.3 Dafür bekamen die beim zweiten Gespräch fehlenden Familienmitglieder beim zweiten Gespräch einen leeren Stuhl in die Gesprächsrunde gestellt, so daß sie virtuell trotzdem mit anwesend waren.
Das WMC Familienberatungssetting
Ich hatte jahrelang nach dem WMC Modell Familienberatungen durchgeführt, sowohl alleine als auch in Co-Beratung.
Das besondere am WMC Beratungsmodell im Unterschied zu vielen anderen Beratungsmodellen ist, daß nicht bzw. weniger der Berater im Austausch mit den anwesenden Familienmitgliedern im Gespräch ist. Er führt also wenig bis kaum Gespräche mit den einzelnen innerhalb der Familienrunde. Vielmehr ist es die Aufgabe des Beraters, zunächst die Familienmitglieder über das, was sie oder einen einzelnen oder manche in die Beratung führt, miteinander ins Gespräch zu bringen, um darüber einen Eindruck zu gewinnen, wie ungefähr4 die Familie bestimmte Frage- und Problemstellungen verhandelt und wie alle dabei miteinander umgehen.
Der nächste Schritt wäre dann, daß der Berater jene Teile, die ihm bedeutsam erscheinen, auswählt: wenn Familienmitglied A etwas berichtet hat, würde der Berater aufmerksam beobachten, welche anderen Familienmitglieder z. B. körpersprachlich mit Gestik oder Mimik darauf reagieren und wenn B auf A besonders reagierte, würde der Berater irgendwann darauf zurückkommen (können) und beide darüber miteinander ins Gespräch bingen: „B, Sie haben als A von xyz sprach, so mit dem Kopf genickt. Bitte sagen Sie A doch einmal, was Sie damit ausdrücken wollten.“ Der Berater möchte also nicht, daß B ihm antwortet, sondern an A richtet.
Wiederum die nächsten Schritte wären dann, A und B zu unterstützen5 anders als sie es bisher gewohnt waren, miteinander auf neue Art ins Gespräch zu kommen (also nicht so drum herum, maskiert, verklausuliert, aggressiv, übervorsichtig oder wie auch immer wenig hilfreich zu kommunizierne) und dabei klar und wertschätzend auf den Punkt zu kommen und dann dem anderen zuzuhören, erst zu verstehen und dann sich selbst zu überprüfen und dann zu antworten.
Der Berater begleitet jedes Familienmitglied und unterstützt es dabei, auf neue Art im Inhalt wie in der Art und Weise6 mit den anderen zu kommunizieren – Aussage für Aussage. Dieser Unterstützungsaspekt ist Kleinarbeit im Kommunikationsdetail und besteht im Kern aus Doppeln und ist aber ein zentraler Bestandteil in der Familienberatung, der es dem Berater sofern er einzeln7 mit einer Familie arbeitet, ermöglicht, sich zu allen Positionen und Inhalten neutral und zu allen Personen allparteilich zu ziegen.
Ich erwähne das Vorgehen hier besonders, weil wir nachher im Elterncoaching sehen werden, daß wir dort anders vorgehen.
Suchtpräsenz
Ich hatte bis zu meinem Wechsel in die neue Beratungsstelle mit Paaren, in denen einer eine Suchtpräsenz entwickelt hatte, gute Erfahrungen gemacht.
Ich verwende hier lieber den Begriff der „Suchtpräsenz“ als den der Suchterkrankung, der Abängigkeitserkrankung oder ähnlicher pathologisierender Zuschreibungen. Diese sind nützlich um im Krankenkassen- und Rentenversicherungskontext Entzüge und Rehabilitationen beantragen zu können und finanziert zu bekommen, nicht aber im systemisch orientierten Beratungskontext. Hier ist es nützlicher, den Fokus auf die Beziehungsdynamik zu legen.
Suchtpräsenz meint, daß derjenige, der süchtiges Verhalten zeigt, im Kontext mit jemandem lebt, der auf dieses Verhalten notgedrungen reagiert bzw. reagieren muß.8 Beide leben nicht zu zweit alleine, sondern mit einem „Suchtmittel“ zu Dritt – mit Alkohol, Tabak, illegalen Drogen, Spielhalle, Computer, Schulden machen etc. Das Paar lebt in einer Dreierkonstellation, einer Triade, und das Paar bezieht in seine Auseinandersetzungen wie sie ihr Leben gestalten wollen, das Suchtmittel mit ein, d. h. das Suchtmittel erhält den Job einer „beziehungsgestaltenden Funktion“.
Nun ist diese Dynamik für den geschulten Berater mit solch einem Paar eine relativ überschaubare Situation. Komplexer wird es allerdings, wenn sich die Suchtpräsenz zwischen Eltern und Jugendlichen abspielt: in dieser Vielfalt geht es dann um die Beziehung
– Jugendlicher zum Suchtmittel
– Eltern zum Suchtmittel des Jugendlichen
– Eltern bzw. Mutter, Vater zum eigenen Umgang mit Suchtmitteln
– Eltern als Elternpaar zum Jugendlichen; Mutter zum Jugendlichen; Vater zum Jugendlichen
– Jugendlicher zum Elternpaar, zur Mutter, zum Vater
– Mutter in ihrer Mutterrolle zum Vater und seiner Vaterrolle und umgekehrt
– Mutter als Ehefrau (Partnerin) zum Vater als Ehemann (Partner) und umgekehrt
– Wenn Geschwister vorhanden, dann Schwester/Bruder zum konsumierenden Bruder /Schwester und umgekehrt
– der Kinder als Geschwisersubsystem zu den Erwachsenen als Elternsubsystem
– sofern Großeltern mit im Haus, deren Beziehung zu ….
Nun sind wir in Familienberatung und Familientherapie häufig mit solch komplexen Dynamiken und Mustern konfrontiert und eine bedeutsamen Aufgabe des Beraters oder Therapeuten ist es u. a. die Komplexität des Systems und der präsentierten Problemlage so zu reduzieren, d. h. mittels erster Hypothesenbildung auf den vorläufigen Punkt zu bringen, daß die Ausgangslage für alle Beteiligten neu handhabbar wird.
Es gibt jedoch zu allen anderen Familiendynamiken einen bedeutsamen Unterschied, wenn ein Suchtmittel seine Wirkung in einem Familienmitglied so entfaltet, daß wir von Suchtpräsenz sprechen können. Dann haben wir es in der Tat mit einem zusätzlichen Familienmitglied zu tun: dem Suchtmittel. Leider wird es sich weigern, mit uns zu kommunizieren, vielmehr beschränkt es seine „Kommunikation“ auf denjenigen, der es konsumiert. Und die „Kommunikation“, d. h. die Einflußnahme, auf den Konsumenten ist gewaltig. Jeder kennt das, der schon versucht hat, mit einem an- oder betrunkenen Zeitgenossen versucht hat, ein vernüftiges Wort zu reden. Da man unter Rauschmittelkonsum aus guten Gründen nicht am Straßenverkehr teilnehmen sollte, weil Reaktions- und Urteilfähigkeit eingeschränkt sind, sollte man aus den gleichen Gründen auch keine Fähigkeit erwarten, an Beratungsgesprächen bzw. Beratungsprozessen konstruktiv teilnehmen zu können. 9
Eben das bemerkte ich schnell in der Arbeit mit Familien mit konsumierenden Jugendlichen.
Wenn die Jugendlichen überhaupt mit zu einem Termin kamen, konnte ich nie sicher sein, ob die sogenannte „Tagesabstinent“ bestand, d. h. ob sie am Beratungstag nicht schon etwas konsumiert hatten.
Selbst wenn Tagesabstinenz bestand, konnte das Rauschmittel schon beträchtlichen Einfluß auf den Jugendlichen genommen haben und mit wem kommunizierte ich dann eigentlich?
Besorgte Eltern wenden sich zumeist erst nach einiger Zeit an Beratungsdienste. Zum einen dauert es manchmal einigbe Zeit bis sie bemerken, daß der Jugendliche konsumiert und dann probieren sie natürlich erst einmal selbst, auf den Jugendlichen Konsum Einfluß zu nehmen. So haben wir dann nach einiger Konsumzeit nicht mehr wirklich den Jugendlichen vor uns, sondern einen mehr oder weniger stark bio-chemisch veränderten jungen Menschen.
Viele Jugendliche zeigten sich an der Beratung auch in Form von Familiengesprächen interessiert. Manche kamen regelmäßig mit, die Mehrzahl je nach Tagesform nur manchmal. Immer stand dann aber der leere Stuhl für sie bereit.7
Kam es in den wenigen Fällen überhaupt zu einer Familienberatung, ergänzte ich die Familiengespräche üblicherweise durch extra Gespräche mit den Elternpaaren (Elternsubsystem) ohne die Jugendlichen und Einzelgespräche mit dem konsumierenden Jugendlichen bzw. um Gespräche nur mit dem Kindersubsystem. Das gibt jedem Subsystem Gelegenheit, Aspekte zur Sprache zu bringen, die das jeweils andere Subsystem bzw. die andere Generation nichts angehen. 10
Meine Parteilichkeit wurde auf keine besondere Probe gestellt:
Die konsumierenden Jugendlichen konnte ich meist gut verstehen in ihren vielfältigen Gründen zu konsumieren, sich auszuprobieren, sich von den Erwachsenen zu unterscheiden und abzugrenze, die Kicks durch den Rausch zu suchen oder den Anforderungen, dem Frust oder den Stimmungsschwankungen zu entfliehen oder welche Gründe auch immer zu erkennen oder nur zu erahnen waren. Trotz oder vielleicht auch manchmal wegen des Konsums kamen sie oft zu erstaunlich differenzierten und tiefen Einsichten in das Familienleben, die Schule oder dem Ausbildungsplatz.
Die Eltern konnte ich aufgrund ihrer Hilflosigkeit, ihrer Ängste und Sorgen gut verstehen. Während sie mit ihrem ganz normalen Erziehungsverhalten bis zu einem bestimmten Zeitpunkt „gut gefahren“ waren, funktionierte plötzlich nichts mehr. Woher sollten sie auch all das Wissen und KnowHow her haben, das wir Profis drauf haben.
Familiengespräche kamen dann realtiv schnell zu einem für alle Beteiligten guten Ergebnis, wenn es sich um Jugendliche handelte, die sich im Kontext eines anfänglichen Probierkosums befanden und deren Eltern die Veränderung bei ihrem Jugendlichen schnell bemerkt hatten und (zum Glück) so besorgt waren, daß sie umgehend eine Beratung aufsuchten.11 In der Arbeit mit diesen Familien konnte ich gut auf eine Co-Beraterin verzichten und die Beratung alleine so durchführen, daß ich für jeden eine wertschätzende Parteilichkeit zeigen konnte. Gleichzeitig konnte ich mich in Bezug auf das präsentierte Problem neutral zeigen und die Beteiligten unterstützen, sich neu miteinander auszutauschen und in Beziehung zu setzen.
Aber mit anderen Familien kam ich mit dem Aspekt der Neutralität alsbald an meine Grenze, wenn der Verlauf den Probierkonsum überschritten hatte und sich seit Wochen, Monaten oder gar Jahren bereits eine deutliche Suchtpräsenz im Familiensystem breit gemacht hatte.
In dieser Klientengruppe gab es kaum Familien mit konsumierenden Jugendlichen, die sich regelmäßig an Familiengesprächen beteiligten und wenn, dann war es meist so, als würden wir in jedem Folgegespräch wieder von vorne beginnen. Auch wechselten die Themen und die aktuellen „Baustellen“ und Problemlagen mit einer Geschwindigkeit, daß ich zunehmend angesichts immer länger währender Beratungsphasen in denen keine Veränderungen passierten, ungeduldiger wurde und an meiner therapeutischen Wirksamkeit zweifelte.
Zudem verließ ich mit meinem Ziel, das Suchtmittel „zu eliminieren“ und damit auch die Suchtpräsenz zu beenden, aus Sicht der Konsumenten meine neutrale Position, was für mich verständlich war, aber nicht weiter führte, weil die Konsumenten deutlich spürten, daß ich immer mehr die Position der Eltern vertrat, selbst wenn ich dies explizit nicht so gesagt hatte.
Ich machte mit Kolleginnen einige Versuche in Co-Beratung nach unserem WMC Beratungsmodell, indem sie innerhalb der Familiengespräche die Unterstützung der konsumierenden Jugendlichen übernahmen und ich die Eltern unterstützte. Letztlich scheiterten diese Versuche aber daran, daß die Jugendlichen entweder nicht regelmäßig oder unter Konsumeinfluß teilnahmen.
Ich gab mich nicht zufrieden und mußte mir immer mehr eingestehen, wie parteiisch ich mich für die Eltern fühlte, oder um es noch zu präzisieren, wie parteiisch ich mich für ein möglichst rasches Konsumende positionierte. Neben der ohnehin bestehenden verständlichen Ambivalenz der Jugendlichen gegenüber einer durch die Erwachsenenwelt dominierten Beratungssituation war ich nun durch meine zunehmende Parteilichkeit aktiv daran beteiligt, bei den Jugendlichen zusätzliche Widerstände zu produzieren.
Ich mußte mir etwas anderes einfallen lassen. Getreu der Ericksonschen Maxime12, nicht mit mehr desselben gegen Widerstände anzugehen, sondern mit dem Widerstand zu gehen, machte ich aus der Not eine Tugend: wenn die Konsumenten nicht „zuverlässig mitarbeiten“ wollten, dann könnte ich doch den Spieß umdrehen und mich entschließen, nicht mehr mit ihnen arbeiten zu wollen, ja sie geradezu aus der Beratung auszuschließen. Ich brauchte also keine Eltern mehr zu motivieren, ihre Jugendlichen zu motiveren, mit zum ersten Familiengespräch mitzukommen. Das Generve bei jedem anstehenden Familiengespräch, ob der Jugendliche nun mitkommen würde oder nicht, konnten wir uns sparen. Ebenso die unfruchtbaren Auseinandersetzungen in den Familiensitzungen. Im Gegenteil, davon befreit konnten wir die Komplexität der vielfältigen Problemlagen neu reduzieren und fokussieren auf „einen“ ganz bestimmten Aspekt: die Wirksamkeit des Elternverhaltens, der elterlichen Einflußnahme – Elternpräsenz statt Suchtpräsenz.
Ich vereinbarte also mit einigen Eltern, daß wir es vorübergehend aufgaben, uns um die Beteiligung ihrer Jugendlichen zu bemühen und den Fokus von einer Familienberatung auf eine Elternberatung verschieben könnten. Die Eltern zeigten sich sehr interessiert, hatten sie doch selbst längst gemerkt, daß sie keinen Einfluß mehr geltend machen konnten, gleichwohl aber das Bedürfnis hatten, etwas gegen den Konsum unternehmen zu wollen.
Der aus meiner Sicht bedeutsamste Veränderungsaspekt am Elternverhalten schien mir die Art und Weise wie diese Eltern mit ihren Jugendlichen kommunizierten. Die Qualität litt immens unter der Quantität: diese Eltern redeten und redeten und redeten, aber ohne Wirkung und Erfolg. Sie zerredeten förmlich den Inhalt, den sie eigentlich rüber bringen wollten und brachten damit sich selbst um die Wirkung ihrer Worte und Botschaften. Ausnahmslos allen Eltern war dies einsichtig. Sie fanden sich selbst oft genervt vom eigenen Reden.
Wir erarbeiteten also bestimmte Inhalte, die sie ihrem Jugendlichen rüber bringen wollten, beschäftigten uns mit präzisen Formulierungen und Botschaften, feilten an Körperausdruck und Körpersprache, machten Rollenspiele und trainierten Verhalten ein. Und die Eltern zeigten sich hoch motiviert und zuversichtlich, nun mit mehr Rückendeckung und gut vorbereitet, anders mit ihren Jugendlichen zu Hause umzugehen und zu kommunizieren. Es gab auch die ersten Erfolge, weil sich die Eltern, wie man so sagt, am Riemen rissen. Sie beschränkten sich im Kontakt zu ihren Jugendlichen nur auf das Wesentliche, sparten sich Kleinigkeiten, wirkten verbal und nonverbal kongruenter und damit auch authentischer.
Aber wir hatten die Rechnung nicht so ganz ohne die Jugendlichen gemacht: diese merkten die Veränderung bei ihren Eltern und reagierten. Und sie reagierten mit Provokationen vielfältiger Art, wie das Pubertierende halt so machen. Das strapazierte die neugewonnene Selbstdisziplin der Eltern bis an die Grenzen des Erträglichen. Wir konnten uns gar nicht mit so vielfältigen unterschiedlichen Situationen beschäftigen und die Eltern vorbereiten, wie die Jugendlichen ihr ganzes Provokationsverpertoire ausspielten. Der Spieß drehte sich um: während die Eltern zunächst in der Position der neu Agierenden waren, konfronierten die Jugendlichen sie mit reaktiven Provokationen, worauf die Eltern wiederum sich genötigt sahn, selbst zu reagieren und es gab vielfältige Neuauflagen jenes „alten“ Elternverhaltens, von dem sie gedacht und sich gewünscht hatten, es abzulegen und durch das neue zu ersetzen. Statt cool und wohl überlegt und zurückhaltend zu reagieren, ließen sie sich immer wieder „hinreißen“ zu unüberlegten und sehr emotionalen Äußerungen, die sie oft hinterher oder schon im Augenblick des Gesagten bereuten.
So saß ich einmal wieder mit der alleinerziehenden Mutter von Tim (15, seit ca. 1 Jahr Cannabiskonsument) im Gespräch. Sie war „eigentlich“ auf einem guten Veränderungweg und hatte sich mit ihrem Verhalten wie sie es selbst nannte „ziemlich gut im Griff“. Wir hatten gemeinsam ihre Kommunikation gegenübr Tim „ausgedünnt“. Wir hatten überlegt, was sie gegenüber Tim überhaupt noch sagen wollte. Wenn sie sich unsicher fühlte, wollte sie eine Reaktion oder Stellungnahme gegenüber Tim bis zu unserem nächsten Beratungsgespräch vertagen usw. Tim seinerseits konfrontierte sie allerdings mit einer Steigerung zunehmender Provokationen, indem er immer häufiger bekifft nach Hause kam und sie dann aggressiv beschimpfte, dann „fünf“ Minuten später sich entschuldigte oder wie ein Häufchen Elend völlig zusammenbrach und sich jammernd an seine Mutter klammerte, dann wieder morgens nicht aufstand, um in die Schule zu gehen, nächtelang wegblieb und dergleichen mehr. Insbesondere die Konfrontation mit den emotionalen Wechselbädern von Tim hatte seine Mutter große Mühe. Zwei, dreimal hielt sie dem Stand und ließ sich nicht in drohende Eskalationen hineinziehen, aber beim nächsten Mal stieg sie dann doch wieder ebenso emotional wie Tim darauf ein, um sich sofort zu ärgern und mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen in die nächste Beratungsstunde zu kommen.
In meiner Gegenübertragungsreaktion reagierte ich innerlich allmählich symmetrisch – ich fühlte mich genervt vom undiszipliniertem Mutterverhalten genauso wie sie von Tims resopektlosem Verhalten genervt war. Alle gemeinsamen Versuche über rationale Einsicht, alle Rollenspiele zeigten Aussicht auf Erfolg, scheiterten aber doch immer wieder in häuslichen Situationen, indem sich Tims Mutter dann doch in Eskalationen hineinziehen ließ. Bis ich eines Tages in einer Beratungsstunde ebenso die Geduld verlor und mir gegenüber Tims Mutter die impulshafte Bemerkung rausrutschte: „Dann halten sie jetzt ab sofort zu Hause endlich mal die Klappe!“
Zum Glück war die Beziehung zu Tims Mutter so tragfähig und wertschätzend, daß sie nicht mit persönlicher Kränkung, sondern eher mit einem ungläubigen Erstaunen reagierte. „Aber das versuche ich ja doch die ganze Zeit schon.“
Schon länger hatte ich mir beim Thema „versuchen“ eine Impact Technik „zurechtgelegt“. Einer meiner Söhne hatte im Kindergarten einen faustgroßen Stein sehr schön bemalt und mit glänzendem Lack überzogen. Das ist seither mein „Versuchsstein“. Also sagte ich zu Tims Mutter: „OK, dann versuchen Sie mal bitte, diesen Stein aufzuheben. Aber bitte nur versuchen!“ Ihre Hand näherte sich dem Stein und in dem Moment als ihre Hand den Stein berührte und ihn umschloß und sie ihn heben wollte, sagte ich: „Stop, nur versuchen, nicht heben!“ Sie zeigte sich irritiert; „Wie, nur versuchen, nicht heben. Aber dann geht es doch nicht weiter!“ Meine Antwort: „Eben!“
Es ging also darum, daß sie keine Versuche mehr machte, ihr Verhalten graduell zu verändern, also quantitativ weniger mit Tim zu kommunizieren und qualitativ weniger emotional mit ihm umzugehen bzw. auf ihn zu reagieren, denn das hielt sie offenbar nicht durch. Sondern es sollte nun in einem neuen Experiment darum gehen, mit Tim verbal überhaupt nicht mehr zu reden. Eine Woche lang kein Wort mehr.
Um es vorwegzunehmen: Diese Schweigephase war ein „durchschlagender“ Erfolg. Allerdings wurden aus einer Woche zwei – warum, das werde ich später erläutern. Mit Erfolg meine ich hier, daß Tims Mutter nach 14 Tagen Scweigen eine stabile Hemmung aufgebaut hatte, impulshaft zu kommunizieren und um es positiv zu sagen, sie konnte so diszipliniert bleiben, daß Tims machen konnte was er wollte, seine Mutter reagierte und sprach nur noch zu ihm, wenn wohl überlegt und cool bleiben konnte.
Schauen wir uns im nächsten Kapital an wie das Gehirn funktioniert damit wir verstehen, wie wir das erreicht hatten.
_______________
1 Abschluß als Sozialtherapeut psychoanalytisch orientiert beim GVS ……….
2 Abschluß beim Wenger M………. und Anerkennung durch die DGSF ……. als ………
3 Gehe immer mit dem Widerstand hier schon mal erklären ………..
4 hier schon mal Kybernetik 2. Ordnung erklären ……….
5 Ein wichtige und sehr unterstützende Methode ist hierbei das Doppeln …. Siehe Benien, Bera tung in Aktion ………..
6 „…Art im Inhalt wie in der Art und Weise …“ Bei Watzlawick und seinen Kommunikationsaxiomen sind es der Inhalts- und Beziehungsaspekt; bei Ruth Cohn im TZI ist es das Thema und das Wir …….
7 Das eigentliche WMC Beratungsmodell besteht in der Paar- und der Familienberatung jedoch in der Co-Beratung zweier gleichberechtigter Berater. In der optimalen Konstellationn arbeitet eine weibliche Beraterin mit Mutter und Tochter und der männliche Berater mit Vater und Sohn, so daß es noch einfacher ist, zumindest auf der Genderebene parteilich zu bleiben …….. Aufsatz suchen von Gisal zu Co-Beratung…..
8 Watzlawick … man kann nicht nicht kommunizieren …………..
9 Während es in medizinischen und Rehabilitatonskontexten seit jeher üblich ist, bei Verdacht auf eine Suchterkrankrung, das ursprüngliche Behandlungs- oder Reha-Ziel zunächst zugunsten einer Suchtdiagnose und –behandlung zurückzustellen, wird leider in vielen Jugendhilfekontexten mit Familiensystemen mit Suchtpräsenz „jahrelang“ gearbeitet, ohne explizit die Suchtpräsenz zu „thematisieren“ und möglichst rasch für ihre Beendigung zu sorgen.
10 Man muß dann als Berater mit diesen Subsystemen natürlich klären, was davon zurück in das Gesamtsystem transportiert werden darf und was nicht.
11 In späteren Jahren forderte ich dann bei Elternabenden, die ich an Schulen oder Kirchengemeinden durchführte, die Eltern eindringlich auf, unsere Sprechstunde schon bei einem ersten Konsumverdacht oder einem ersten bemerkten Konsum und eigener Sorge möglichst zeitnah aufzusuchen und dies heimlich zu tun, ohne den Jugendlichen zu informieren, um das Risiko einer unnötigen Pathologisierung und die Suggestion „Werde bloß nicht süchtig!“ zu vermeiden.
12 Das Konzept Widerstand in der …. Thies Stahl ???