Suchtpräsenz oder die beziehungsgestaltende Funktion des Suchtmittels
Menschen geraten manchmal an ihre Grenzen, die Beziehungsmuster in ihren Familien je nach Alltagsanforderungen flexibel gestalten zu können. Meist zufällig machen Familien die Erfahrung, daß Streiten verbinden kann. (1) Sie entwickeln sogenannte zirkuläre Beziehungsmuster. Man könnte sie auch zirkulierende Muster nennen, weil sie in Wellen oder in kreisläufigen Zeitschleifen, fortwährend wiederholt werden. Aber in der systemischen Beratung und Therapie hat sich der Begriff „zirkulär“ etabliert.
Solche zirkluären Beziehungsschleifen nehmen dann z. B. ein Suchtmittel als Mittelpunkt. (2) Ein Besipiel: Ein (Ehe-) Paar stellt im Laufe seiner Beziehung fest, daß man sich liebt, aber die eine Seite hat intensive Wünsche nach Nähe und die andere Seite, beginnt sich darüber zu fürchten, merkt dies aber selbst nicht deutlich genug oder schämt sich, das zu besprechen und zufälligerweise macht letzter die Erfahrung, daß Alkoholkonsum Distanz schafft. Dann ist das doch subjektiv ein erfolgreiches Distanzierungsmittel in zweifacher Weise: erstens mag der Nichtkonsument in der Beziehung den Rauschkonsum nicht, weil das nicht dem Wunsch nach intensive Nähe entspricht und zweitens reduziert es beim Nähe fürchtenden Partner die Angst vor Nähe und wird sich trauen, was ersterer aber so nicht möchte, den ein Partner mit Alkohol entspricht nun so gar nicht den Wünschen nach Nähe, denn dann möchte man jemand für sich alleine und nicht im Verein mit Alkohol haben. Streit liegt in der Luft und wenn es dazu kommt, wird man sich (wörtlich genommen) a u s einandersetzen, um sich nach einem heftigen Streit zu versöhnen und damit anzunähern. Aber dann sind beide schon wieder am Beginne der nächsten Runde, weil es gerade wieder mal etwas nahe oder eng wird – für den einen.
Dem Alkohol wird in diesem „Spiel“ fast eine personale Rolle zugeschrieben. So als ginge der trinkende Partner fremd, hätte eine Daueraffaire mit seinem Alkohol. Beide Partner benutzen den Konflikt um den Alkohol, um ihre Nähe oder Distanz zu einander zu regulieren. Das meinen wir mit beziehungsgestaltender Funktion.
Vergleichbares geschieht, wenn ein Jugendlicher in der Pubertät beginnt, Rauschmittel zu konsumieren und es um diesen Konsum herum Auseinandersetzungen gibt, die aber keine Veränderung des Konsums bewirken, sondern eher zu weiteren oder sogar zunehmendem Konsum und immer neuen Eskalationsschleifen unter den Familienmitgliedern führen. Dann gewinnt der Konsum an Präsenz in der Familie und wir sprechen von Suchtpräsenz.
Über die beziehungsgestaltende Funktion in der Ablösungsphase der Jugendlichen, die wir Pubertät und Adoleszenz (3) nennen, erfahren Sie mehr im Kapitel bezogene Individuationund im Kapitel Elternpräsenz.
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1 Georg R. Bach / Peter Wyden: Streiten verbindet – Spielregeln für Liebe und Ehe, Fischer TB 1983
2 Ähnliches kann man mitunter auch beobachten, wenn ein Familienmitglied schwer erkrankt und die Krankheit eine beziehungsgestaltende Funktion bekommt oder wenn sich Familien finanziell verschulden, können die „Schulden“ zum Objekt der Beziehungsgestaltung werden und ähnliche Konstellationen mehr.
3 Zu den unterschiedlichen Definitionen von Pubertät und Adoleszenz findet man Infos bei http://de.wikipedia.org/wiki/Adoleszenz. Siehe auch im Kapitel Pubertät und Adoleszenz.